25 Jahre Harry Potter

Die heiße Liebe ist vorbei – Erinnerungen eines einstigen Harry-Potter-Fans

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Tobias Stosiek

Vor genau 25 Jahren, am 21. Juli 1998, erschien in Deutschland der erste Band von Harry Potter. Es folgten noch sechs weitere, dazu acht Filme, und ein Hype, den wahrscheinlich keine andere Buchreihe je erzeugt hat. Harry Potter ist ein Weltphänomen. Ein Leser allererster Stunde war Tobias Stosiek. Damals acht, heute 33. Damals Fan, und heute?

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Ausschnitt auf „Harry Potter: 20th Anniversary: Return to Hogwarts“
Millionen Kinder auf der ganzen Welt wurden mit Harry, Ron und Hermine — gespielt von Daniel Radcliffe, Rupert Grind und Emma Watson — erwachsen.

Es war Liebe. Schon nach ein paar Zeilen!

Es waren die späten Neunziger. Ich war acht, er war zehn. Und es war Liebe. Schon nach ein paar Zeilen. Und sie hat gehalten, über hunderte, nein, tausende von Seiten. Bis er ein knappes Jahrzehnt später die Schule verließ. Da waren wir beide Siebzehn.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch das: Unsere Liebe war nicht sonderlich exklusiv. Harry Potter – das ist die vielleicht extremste Form literarischer Polyamorie.

Kritiker Denis Scheck über das „literarische Wunder“ Harry Potter:

In Deutschland über 30 Millionen Mal verkauft

Allein in Deutschland haben sich die Bücher von J.K. Rowling bis heute über 30 Millionen Mal verkauft, weltweit mehr als eine halbe Milliarde. Früh wurde Harry Potter deshalb mit der Bibel verglichen. Meistgelesenes Buch der Welt. 

Zumindest für meine, für die Generation der Millenials, sind die sieben Bände der Lesestoff, an dem einfach kein Vorbeikommen war. Oder kein Vorbeiwollen. Der Popappeal des Zauberlehrlings war so groß, wie es heute nur noch das neuste Gadget von Apple ist. Spätestens ab dem Erscheinen des vierten Bandes campierten weltweit Fans vor den Buchläden, um die ersten Exemplare zu ergattern. Schließlich schlummerte hier zwischen zwei Buchdeckeln ein – Grüße an Ratzinger – verführerisches Versprechen: das Versprechen zu verschwinden, abzutauchen.

Harry Potter, das war die letzte Bastion des Deep Readings, ehe das Internet unsere Synapsen zerschoss.

22.11.2001: Harry Potter kommt in die deutschen Kinos

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Was macht die Geschichte unwiderstehlich?

„Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie könnten sich in eine merkwürdige und geheimnisvolle Geschichte verstricken, denn mit solchem Unsinn wollten sie nichts zu tun haben.“

Was macht die Geschichte, die mit diesen Zeilen beginnt, so unwiderstehlich? Um ehrlich zu sein: keine Ahnung. Von heute aus betrachtet: Der erste Band ist fantastisch, skurril, komisch und von einer völlig irren Einfallsdichte. Ab dem zweiten zeigt sich dann allerdings, wo wir eigentlich unterwegs sind: im Genre.

Harry Potter und Cho Chang küssen scih
Im fünften Teil der Saga, „Der Orden des Phönix“, küsst Harry Potter zum ersten Mal ein Mädchen – auch wenn er am Ende nicht Cho Chang sondern Ginny Weasley heiratet, ein einschneidender Moment für alle Fans der Fantasy-Reihe.

Sittenbild der 50er: Hanni und Nanni plus ein bisschen Hokus Pokus

Harry Potter ist klassische Internatsliteratur. Hanni und Nanni plus ein bisschen Hokus Pokus. Und dazu ein Sittenbild wie aus den 50ern. Also auch wieder Hanni und Nanni. An Keuschheit ist das, was in Hogwarts passiert, jedenfalls kaum zu überbieten. Gucken, Erröten, Küssen, am besten unterm Mistelzweig, viel mehr ist nicht. Reife Leistung für Teenager.

Baut Harry Potter Vorurteile ab?

Das ist die eine Seite. Allerdings gibt es in den Romanen auch vieles, was so gar nicht in die 50er passt. Liebe, Freundschaft, Toleranz und Diversität, das sind alles wichtige Werte in den Büchern. Eine Studie der Uni im italienischen Modena kommt sogar zu dem Schluss, dass die Lektüre der Romane Vorurteile abbaue.

Bild aus dem Harry Potter Film "Kammer des Schreckens". Psychiaterin und Psychotherapeutin Claudia Hochbrunn analysiert in SWR1 Leute, warum so viele Romanfiguren in der Literatur mit Problemen zu kämpfen haben, in dysfunktionalen Familien aufwachsen oder narzisstische Störungen haben. In ihrem Buch "Helden auf der Couch" macht sie einen psychiatrischen Streifzug durch die Literaturgeschichte
Daniel Radcliffe als Harry Potter im Film "Kammer des Schreckens"

Der tapsige Daniel Radcliffe ist eine echte Idealbesetzung

Und dann Harry Potter selbst. Ein Held, der sich für seine Rolle so sehr schämt, dass man ihn deshalb in den Arm nehmen möchte. Ein Retter, dem seine Taten mehr passieren, als dass er sie tut. In der Hinsicht ist der tapsige Daniel Radcliffe aus der Verfilmung übrigens eine echte Idealbesetzung. Harry Potter, das ist eine Heldengeschichte für das postheroische Zeitalter.

Kritik an Rowlings Vorurteilen gegenüber Transmenschen

In dieser Mischung aus konservativem Backing und progressiver Wirkung ist Harry Potter am Ende vielleicht sogar eine Art Trojanisches Pferd. Und zwar eines, das inzwischen seiner Schöpferin zum Verhängnis wird. Rowling wird ja seit Jahren scharf kritisiert, weil sie immer wieder bestimmte Vorurteile gegenüber Transmenschen beackert. Weil sie nicht müde wird, Transpersonen von einer düsteren Fantasie her zu denken. Stichwort: Mann in Kleidern dringt in Frauenschutzräume ein.

Die heiße Liebe ist vorbei. Aber Freundschaft wäre vielleicht was!

Interessant ist dabei: Potterfans waren die ersten, die das kritisiert haben. Und zwar aus einer moralischen Erwartung gegenüber Rowling, die sich aus den Büchern speiste, die sie geschrieben hatte. Und das macht Hoffnung. Genauso wie die Bereitschaft der Potterheads deswegen Fragen zu stellen wie: Sollte man die Bücher noch Lesen?

Egal wie man das für sich beantwortet – allein das zeigt: Harry Potter ist nicht sakrosankt. Kein Winnetou – und auch nicht die Bibel. Zum Glück.Und deshalb kann ich ganz frei sagen: Wir waren halt Siebzehn damals. Die heiße Liebe ist vorbei. Aber Freundschaft wäre vielleicht was.

SWR2 Tandem Der Sport aus der Harry Potter-Welt – Marco Ziegaus trainiert das deutsche Quidditch-Nationalteam

Marco Ziegaus war Freizeitkicker als er 2015 an der Uni auf Quidditch stieß. Der Sport stammt aus den Harry Potter-Romanen, wird aber auch in der realen Welt betrieben. Heute ist Ziegaus Bundestrainer.  

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Tobias Stosiek