Schulranzen stehen in einer Grundschule vor einem leeren Klassenzimmer.

Interview mit Bildungsministerin Stefanie Hubig

Grundschulen in Brennpunkten: "Wir brauchen dringend die Eltern"

Stand
INTERVIEW
Nicoletta Prevete

Grundschulen in Ludwigshafen schlagen Alarm: Viele Grundschüler in Ludwigshafen sprechen kaum Deutsch und manche schwänzen die Schule. Was das Land jetzt plant, erklärt Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) im SWR-Interview.

SWR Aktuell: Die Gräfenau-Grundschule in Ludwigshafen hatte zu Beginn des Schuljahres Unterstützung durch junge Studierende. Unter dem Arbeitstitel "First Class" haben sie geholfen, dass sich die Erstklässler gut in der Schule einfinden. Die Schulleiter auch anderer Grundschulen in Ludwigshafen würden sich allerdings dauerhaft Unterstützung durch Studierende, Sozialarbeiter oder andere externe Fachkräfte wünschen. Warum ist das nicht möglich?

Stefanie Hubig: Wir sehen, dass die Schulen in herausfordernder Lage - und das sind nicht nur Schulen in Ludwigshafen, die gibt es auch in anderen großen Städten - dass diese Schulen wirklich vor großen Herausforderungen stehen. Wir haben deshalb in der Vergangenheit schon angefangen, die Weichen anders zu stellen. Ich würde es gerne vorneweg sagen: Ich glaube, man kann auf neue Fragen nicht mehr mit alten Antworten reagieren. Sondern wir brauchen auf neue Fragen neue Antworten. Und die können nicht immer heißen, einfach nur "Mehr vom Selben". Das müssen wir selbstkritisch sehen, dass wir damit nicht weiterkommen, sondern dass wir neue Strukturen brauchen: Eine andere Art von Zusammenarbeit, von Vernetzung, auch von multiprofessionellen Teams. Und das haben wir jetzt viel stärker angelegt.

Stefanie Hubig (SPD), Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz besucht eine Schulklasse
Stefanie Hubig: "Wir sind in Rheinland-Pfalz, verglichen mit anderen Bundesländern, noch gut aufgestellt."

Sie haben gerade "First Class" erwähnt. Es war von Anfang an als Projekt für die ersten sechs Schulwochen vorgesehen. Es ging immer darum, den Kindern, den Schülerinnen und Schülern in der ersten Klasse so das Ankommen zu erleichtern. Das Projekt war sehr erfolgreich. Wir haben sehr positive Rückmeldungen bekommen, und wir möchten es deshalb zum nächsten Schuljahr weiter ausbauen und auch anderen Schulen zur Verfügung stellen.

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SWR Aktuell: Wie könnte das dann aussehen?

Hubig: In der Zwischenzeit haben wir schon mehr Personal an die Schulen gegeben für zusätzliche Unterstützungsmöglichkeiten, besonders in Ludwigshafen. Wir haben als eines der wenigen Länder das Corona-Aufholprogramm fortgesetzt, sodass Sprachkurse und Förderkurse weiterlaufen können. Es gibt in Ludwigshafen eine Extra-Stelle Grundschul-Sozialarbeit, um Schulabsentismus zu bekämpfen. Das heißt, eine Sozialarbeiterin geht zu den Eltern nach Hause und kümmert sich darum, dass die Kinder regelmäßig in die Schule kommen.

Und wir haben eine Koordinierungskraft, die wir mitfinanzieren, und die sich darum kümmert, dass die Sprachförderung noch stärker bereits vor der Schule stattfindet - damit der Übergang in die Grundschule besser gelingt. Das heißt, dass wir schon viele andere Professionen in die Schule holen, damit man sich gegenseitig unterstützt, sich auch die Schulleitungen besser vernetzen, um Schulen weiterentwickeln zu können. Es ist ganz wichtig, dass wir nicht nur einfach finanzielle Ressourcen reingeben - zum Beispiel für mehr Sprachförderung -, sondern dass wir zugleich schauen, wie wir zu einem anderen Arbeiten kommen und zum Beispiel die Eltern viel stärker involvieren. Denn wir brauchen ganz, ganz dringend die Eltern.

SWR Aktuell: Viele Grundschüler in Ludwigshafen sprechen kaum oder sehr schlecht Deutsch. Sprachförderung wird an den Schulen aber sehr unterschiedlich umgesetzt: Während die einen ein ausgeklügeltes System haben, gibt es bei anderen nur wenige Zusatzstunden, die bei Lehrermangel auch noch ausfallen. Warum gibt es so große Unterschiede?

Hubig: Das Beispiel zeigt gut, wie Schule sich selbst organisieren kann. Die Schulen haben Selbständigkeiten und Freiheiten. Das fordern sie auch zurecht ein. Und das brauchen sie. Für gewöhnlich beraten wir als Ministerium, wir unterstützen, aber wir geben nicht alles verpflichtend vor.  Die Organisation vor Ort, zum Beispiel die Frage, wie setze ich meine Ressourcen ein, wie organisiere ich meine Lehrkräfte, mein Budget, das muss an der Schule gemacht werden. Wir sehen, dass es bei vielen Schulen ganz hervorragend gelingt. Sie haben gute Ideen, sie suchen sich außerschulische Kooperationspartner. Und in anderen Schulen funktioniert das nicht so gut. Deshalb ist unser Ziel, dass sich Schulen mit Schulen in Rheinland-Pfalz oder Schulen anderer Bundesländer vernetzen. Damit man sich gute Ideen abschauen kann. Damit man sieht, schau an, die haben ähnliche Probleme und die lösen das auf diese Art und Weise. Wir finden es wichtig, Schulen zu ertüchtigen, noch mal anders zu denken und sich gute Sachen bei anderen abzugucken.

Grundsätzlich werden die Zusatzstunden von der Schulaufsicht nach Bedarf vergeben, und der ist von Ort zu Ort unterschiedlich. Dass Stunden ausfallen, soll natürlich nicht passieren. Hier gibt es beispielsweise die Möglichkeit, mit Vertretungskräften zu arbeiten, sofern sie verfügbar sind.

SWR Aktuell: Die Eltern mit ins Boot zu holen, sagen Sie, ist wichtig. Das sollen die geplanten Familiengrundschulzentren ermöglichen. Was können die bewirken?

Hubig: Die Familiengrundschulzentren gibt es zum Beispiel bereits in Nordrhein-Westfalen. Sie haben gezeigt: Wenn man die Eltern stärker einbezieht in die Schule, wenn man sie in die Schule reinholt bei positiven Gelegenheiten, etwa bei Eltern-Kind-Sportkursen, bei Handarbeits- oder Nähkursen, dann baut sich ein anderer Kontakt zur Schulleitung auf, aber auch zwischen Lehrerinnen und Lehrern und den Eltern wird das Verhältnis besser. Das heißt, Schule wird vielmehr zu einem positiv besetzten Lebensort für die Eltern und nicht zu dem Ort, wo man hin muss, wenn mal wieder was schiefgelaufen ist und wo man seine Kinder vielleicht nicht so gerne hinschickt. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn Eltern selbst negative Erfahrungen mit Schule gemacht haben. Durch diese Zentren ist in Nordrhein-Westfalen der Schulabsentismus gesunken. Kinder kommen wieder lieber in die Schulen, und die Eltern schicken das Kind lieber dorthin, weil sie sehen: Da sind Menschen, die kümmern sich toll um mein Kind, die bringen meinem Kind etwas bei.

Der große Vorteil an den Familiengrundschulzentren ist, dass es soziokulturelle Angebote und Bildungsangebote direkt an den Schulen gibt, zum Beispiel Sprach- und Integrationskurse. Auch Beratungsangebote sind denkbar, etwa von Pro Familia oder der Verbraucherzentrale, und natürlich pädagogische Unterstützung für die Kinder etwa in Form von Hausaufgabenhilfe.

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SWR Aktuell: Worauf kommt es dabei besonders an?

Hubig: Dreh- und Angelpunkt ist auch hier die Schulsozialarbeit. Ein koordinierender Schulsozialarbeiter oder eine Schulsozialarbeiterin holt zusammen mit der Stadt diese Angebote direkt an die Schulen. Wir sind mit den Zentren bereits in Koblenz und Wittlich gestartet und es läuft sehr gut. Und ich freue mich, dass Ludwigshafen, nachdem wir viel gesprochen haben, viel vor Ort dafür geworben haben, diese Zentren jetzt auch realisieren möchte.

SWR Aktuell: Das Konzept der Familiengrundschulzentren ist finanziell erstmal nur bis 2026 geplant. Ist das nicht sehr viel Aufwand für eine so kurze Dauer?

Hubig: Die Familiengrundschulzentren sind als Maßnahme auf Dauer geplant. Das ist mir besonders wichtig. Ich möchte keine Projekte, die wir nur ein, zwei Jahre machen. Wenn wir etwas verändern, sollten wir das auch dauerhaft tun. Was wir aber trotzdem immer machen, dass wir mit einem Piloten starten, um dann zu sehen: Was ist gut gelaufen und wo müssen wir vielleicht nachsteuern? Und wenn es gut läuft, dann können wir es in die Fläche des Landes geben, nicht nur in wenigen Städte. Und wir wollen die Zentren dauerhaft haben.

Die Rückmeldungen, die wir jetzt schon haben, sind so positiv, dass ich davon ausgehe, dass wir die Familiengrundschulzentren auf jeden Fall weiter behalten und natürlich weiter in unserem Haushalt mitfinanzieren werden. Das ist mir einfach wichtig. Ich bin immer ein bisschen genervt von Bundesprogrammen, die gut und teuer sind und nach anderthalb Jahren heißt es: So jetzt steigen wir aus, jetzt müsst ihr schauen, wie ihr das weiter stemmt. Die Familiengrundschulzentren sollen auf alle Fälle dauerhaft an den Schulen bleiben.

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